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Muss das Recht der Politik folgen?

Zusammenfassung

Donald Trump hat sich längst von jeglichem Primat des Rechts verabschiedet und regiert frei nach dem Motto: „He who saves his Country does not violate any Law“.[1] Wer nun glaubt, Europa sei die Bastion der Rechtsstaatlichkeit, hier könne so etwas nicht passieren, liegt daneben.

Worum geht es?

Donald Trump hat sich längst von jeglichem Primat des Rechts verabschiedet und regiert frei nach dem Motto: „He who saves his Country does not violate any Law“.[1] Wer nun glaubt, Europa sei die Bastion der Rechtsstaatlichkeit, hier könne so etwas nicht passieren, liegt daneben. Herbert Kickl hat es gesagt und auch von deutschen Politiker:innen – und zuletzt auch Behördenchefs[2] – hört man es immer öfter: wenn das Recht der Politik entgegenstehe, dann müsse es eben geändert oder abgeschafft werden. Das Recht solle der Politik folgen, nicht andersrum. Auch Expert:innen fordern teilweise jedenfalls die “Menschenrechte weniger streng zu handhaben”, auch die Europäische Menschenrechtskonvention sei schließlich änderbar.[3]

Was ist von solchen Forderungen zu halten? Menschenrechte „weniger achten“ oder Asylrecht abschaffen – geht das überhaupt? Was kann wie geändert werden? Und was, wenn man einfach drauf los und am Recht vorbei regiert?

Mit unserem Briefing möchten wir Hintergründe und Argumente für die Debatte liefern. Mit unseren Empfehlungen zur Kommunikation fassen wir unten nochmal kurz und knapp zusammen, worum es geht.

Was sind zentrale rechtliche Fragen?

1. Wer Recht ignoriert, ignoriert den Rechtsstaat

Politisches Handeln, das gegen geltendes Recht verstößt, ist auch rechtsstaatswidrig – das Handeln verstößt nicht nur gegen das Recht, sondern auch gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit an sich. In der öffentlichen Diskussion wird der ‚Rechtsstaat‘ oft als eine Art Türsteher dargestellt, der mit aller Härte für Ordnung sorgt. Das Grundgesetz versteht darunter etwas anderes. Dabei wird hinsichtlich des Rechtsstaats zwischen einem formellen und einem materiellen Begriff unterschieden: der materielle Begriff lädt den formellen, vereinfacht gesagt, mit einer Gerechtigkeitsdimension auf.[4] Im Rechtsstaat herrscht das Recht. Dies verlangt einerseits die Durchsetzung geltenden Rechts durch den Staat, andererseits und vor allem aber auch die Bindung des Staats, also der Exekutive, an „Recht und Gesetz“ und damit die Einhegung des Gewaltmonopols[5] – wie sich aus Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes und auf europäischer Ebene auch aus Artikel 2 des Vertrags der Europäischen Union eindeutig ergibt. Dies bedeutet, dass sich staatliche Stellen stets an geltendes Recht halten müssen. Tun sie dies nicht und missachten sie geltendes Recht, dann missachten sie zugleich den Rechtsstaat als solchen.[6]Wie sich geltendes Recht bei Notstand oder Ausnahmezustand verhält erklären wir in einem gesonderten  Briefing, das demnächst erscheint.

2. Wie ändert man Völkerrecht, EU-Recht und Menschenrechte?

In unserem ersten Briefing haben wir dargestellt, dass Zurückweisungen Menschenrechte und EU-Recht verletzen.[7] Bei der Frage, ob sich das Recht schlicht ändern ließe, geht es also um das Fundament der europäischen Wertegemeinschaft, um die Grundrechtecharta der EU und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Das Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung, gegen das Zurückweisungen nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verstoßen[8], gilt dabei absolut. Es ist einer der „grundlegendsten Werte demokratischer Gesellschaften“, von dem nicht mal im Krieg oder einem anderen Notstand abgewichen werden darf.[9] In Deutschland hat einmal ein Polizist Folter angewendet, um den Aufenthaltsort eines entführten Jungen zu erfahren – diese „Rettungsfolter“ hat der EGMR für rechtswidrig gehalten.[10] Abweichung nicht möglich.Wollte man „das Recht ändern“, dann müsste man also an die Europäische Menschenrechtskonvention, an die Genfer Flüchtlingskonvention, vielleicht sogar an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, jedenfalls an die Grundrechtecharta der EU, an die Europäischen Verträge und an das sogenannte sekundäre Unionsrecht, also die Richtlinien und Verordnungen, und schließlich auch an das Grundgesetz heran. Und damit sind wir wieder bei der zentralen Frage: Geht das? Kann man an die Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und das Asylrecht abschaffen?Die Grundrechtecharta der EU ist sogenanntes Unionsprimärrecht, also Recht, auf dem die EU fußt[11], und kann nur durch ein aufwendiges Verfahren geändert werden.[12] Ein solches umfasstdie Einberufung eines Konvents durch den Europäischen Rat, in dem Vertreter:innen der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente sowie der Europäischen Kommission über Änderungen beraten,eine Regierungskonferenz der Mitgliedstaaten, auf der die Ergebnisse des Konvents verhandelt werden undeine einstimmige Ratifikation durch Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Verfassungen.„Sekundäres“ Unionsrecht[13] wird auf Grundlage des Primärrechts erlassen. Dazu gehört etwa die Dublin-III-Verordnung, gegen die Zurückweisungen verstoßen. Sekundärrecht kann „einfacher“ geändert werden.[14] Die Europäische Kommission (und nur die Kommission) hat Initiativrecht und kann eine Änderung vorschlagen, dieser benötigt dann sowohl eine Mehrheit im Parlament als auch im Europäischen Rat, also dem Rat der Regierungschef:innen in einem komplizierten Verfahren.[15]Bei einer Missachtung des EU-Rechts, wird zudem auch das Grundgesetz missachtet, denn dieses schreibt den Vorrang von EU-Recht in Artikel 23 des Grundgesetzes vor. Dieser müsste geändert werden, was grundsätzlich möglich ist. Dafür müssten gemäß Artikel 79 Grundgesetz Bundesrat, Bundestag oder Bundesregierung einen Antrag einbringen, der eine 2/3-Mehrheit sowohl in Bundestag als auch Bundesrat benötigt. Eine Verweigerung den Vorrang des EU-Rechts anzuerkennen bedeutete aber auch einen faktischen Austritt aus der EU.[16]Die Europäische Menschenrechtskonvention ist nur durch sogenannte Zusatzprotokolle änderbar, denen alle Vertragsstaaten – also 46 Mitgliedstaaten des Europarats – zustimmen müssen. Deutschland könnte faktisch, um dem Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung zu entgehen, nur aus der EMRK austreten.Die Genfer Flüchtlingskonvention kann in einem komplizierten Verfahren geändert werden. Nach Artikel 45 kann ein Vertragsstaat eine Änderung vorschlagen, die an den Generalsekretär der Vereinten Nationen übermittelt werden muss, der sie an alle Vertragsstaaten weiterleitet. Falls mindestens ein Drittel der Vertragsstaaten zustimmt, wird eine internationale Konferenz einberufen, um über die Änderung zu verhandeln. Die Änderung tritt nur für die Staaten in Kraft, die sie ratifizieren. Die GFK kann auch gekündigt werden (Artikel 44), diese tritt nach einem Jahr in Kraft. Bisher ist weltweit noch kein einziger Staat aus der GFK ausgetreten.Das Folterverbot – aus dem sich auch der Grundsatz der Nichtzurückweisung ergibt – ist zudem Völkergewohnheitsrecht und zwingendes Völkerrecht (ius cogens) - welches zwingend und nicht aufkündbar ist. Dies hat zum Beispiel auch der britische Supreme Court in Betracht gezogen, als er über den sogenannten Ruanda-Deal entscheiden musste[17], im Ergebnis aber offengelassen, weil Großbritannien als Mitglied des Europarats auch Mitgliedstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention ist.

3. Wer das Völkerrecht ignoriert, negiert das „Nie wieder“ von 1945

Das UN-System, die zentralen Menschenrechtsverträge und das Flüchtlingsvölkerrecht sind als Antwort auf den Zweiten Weltkrieg entstanden. Nach der menschlichen, politischen und ethischen Katastrophe vor 1945 einigte sich die Staatengemeinschaft im Sinne eines kollektiven „Nie wieder“ auf gewisse Mindeststandards im Umgang mit allen Menschen. Alle Menschen, und das heißt explizit auch: geflüchtete Menschen, sollten sich fortan allein aufgrund ihres Menschseins auf ein Mindestmaß an Rechten berufen können.Der bis heute verbindlich geltende Nachkriegskonsens beinhaltet explizit auch das „Recht, Rechte zu haben“, wie Hannah Arendt es treffend genannt hat.[18] Das Recht, Menschenrechte zu haben, kann keinem Menschen entzogen werden. Was bedeutet das in Bezug auf geflüchtete Menschen? Geflüchtete Menschen haben den Schutz durch ihren Heimatstaat verloren. Sie genießen de facto nicht länger das Privileg einer effektiv schützenden Staatsangehörigkeit. Gerade Geflüchtete sind also darauf angewiesen, dass andere Staaten die Rechte, die ihnen allein aufgrund ihres Menschseins zustehen, achten und schützen.Wer fordert, die „Menschenrechte weniger streng zu handhaben“, das Flüchtlingsvölkerrecht zu ignorieren oder gleich ganz abzuschaffen, bricht mit dem politischen, moralischen und menschlichen Nachkriegskonsens der Staatengemeinschaft. Dem „Nie wieder“ von 1945 wird so der Boden entzogen. Das sollte Juraprofessor:innen, Bundespolitiker:innen und Leiter:innen von Bundesbehörden gerade in Deutschland bewusst sein.

[1] Vergleiche Kim Lane Scheppele, Trump’s Counter-Constitution. “He who saves his Country does not violate any Law”, Verfassungsblog vom 21. Februar 2025, hier abrufbar.

[2] Der Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Hans-Eckhardt Sommer hat sich für eine Abschaffung des individuellen Asylrechts ausgesprochen, auch die Genfer Flüchtlingskonvention könne geändert werden, Tagesschau vom 01. April 2025, hier abrufbar: https://bitl.to/4MT5.

[3] Katrin Elger und Dietmar Hipp, »Wir müssen die Menschenrechte weniger streng handhaben«, Interview mit Daniel Thym, Der Spiegel vom 16. März 2025, hier abrufbar: https://bitl.to/4MW4 (€).

[4] Übersichtlich aufbereitet hat dies Kyrill-Alexander Schwarz, Rechtsstaat und ziviler Ungehorsam, Neue Juristische Wochenschrift 2023, S. 275 fortfolgende.

[5] Maximilian Pichl, Gefährliche Rede vom "Rechts­staat", Legal Tribute Online, 2019, hier abrufbar: https://bitl.to/41y1.

[6] Weiterführend zum Rechtsstaatsproblem in der Europäischen Asylpolitik: Robert Nestler, Tagesspiegel 29 Juni 2023, hier abrufbar: https://bitl.to/3wgN.

[7] Equal Rights Beyond Borders, Warum Zurückweisungen an der Grenze rechtswidrig sind. Borderlines: Briefings zu Migration und Menschenrechten, 21. Februar 2025, hier abrufbar: https://bitl.to/42ii.

[8] Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Urteil vom 15. Oktober 2024, Aktenzeichen 13337/19 – H.T. gegen Griechenland und Deutschland.

[9] Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Guide on Article 3 of the European Convention on Human Rights, 31. August 2024, S. 6, hier abrufbar: https://bitl.to/3zng.

[10] Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Urteil vom 01 Juni 2010, Aktenzeichen 22978/05 – Gäffgen gegen Deutschland.

[11] Überblick: Bundeszentrale für Politische Bildung, Das Rechtslexikon, Primärrecht, hier abrufbar: https://bitl.to/41yA.

[12] Artikel 6 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

[13] Überblick: Bundeszentrale für Politische Bildung, Das Rechtslexikon, Sekundärrecht, hier abrufbar: https://bitl.to/4MTy.

[14] Artikel 294 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

[15] Überblick: Europäischer Rat, Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, hier abrufbar: https://bitl.to/41Or.

[16] Weiterführend: Stefan Marschall, Kann das Grundgesetz geändert werden?, Bundeszentrale für Politische Bildung, hier abrufbar: https://bitl.to/41Ow.

[17] Supreme Court des Vereinigten Königreichs, Urteil vom 15. November 2023, Aktenzeichen UKSC/2023/0093 – R (on the application of AAA and others), Randnummer 25, hier abrufbar: https://bitl.to/4MTg.

[18] Überblick: Lena Anlauf, Hannah Arendt und das Recht, Rechte zu haben, 2007, hier abrufbar: https://bitl.to/4MU2.

Kurz und knapp:                

  1. Wer Recht einfach ignoriert, ignoriert den Rechtsstaat und damit das Fundament des Grundgesetzes und jeder Demokratie.
  2. Wer die Menschenrechte weniger ernst nehmen oder das Asylrecht abschaffen will, negiert das kollektive „Nie wieder“ von 1945, auf dem die Völkerrechtsgemeinschaft und die Europäische Union beruhen.
  3. Damit Zurückweisungen nicht illegal sind, müssten das primäre und das sekundäre EU-Recht geändert werden. Außerdem die Europäische Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention. Und das Grundgesetz. All dies ist in der Praxis beinahe unmöglich.
  4. Selbst, wenn Deutschland sich aus der EU, der EMRK und der Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet: Das Gebot der Nichtzurückweisung ist zwingendes Völkerrecht. Es gilt selbst dann, wenn Deutschland aus allen internationalen Verträgen aussteigt.

Was ist zu tun?

  • Falls jemand behauptet, „Recht müsse der Politik folgen“, fragen Sie die Person, was sie damit meint – meint Sie, dass Recht einfach außer Acht gelassen werden soll, oder, dass Recht geändert werden soll? Fragen Sie nach, ob die Person die Dimensionen ihrer Forderungen versteht. Sollte der Staat alles dürfen, ohne dafür rechtlich in Schranken gewiesen zu werden? Was, wenn mal jemand an der Macht ist, dessen Ansichten man nicht teilt? Falls die Person meint, das Recht müsse man ändern, führen Sie ihr vor Augen, was das bedeutete – EU-Austritt, EMKR-Austritt (hat bisher nur Russland getan), Verabschiedung vom Völkerrecht. Und führen sie der Person vor Augen, dass all dies auch Auswirkungen auf das eigene Leben der betreffenden Person haben würde - denn keine Menschenrechte bedeutet schließlich genau das: keine Rechte für Menschen.

Weiterführende Ressourcen

Max Pichl, Law statt Order. Der Kampf um den Rechtsstaat, Suhrkamp, 2024.

Mediendienst Integration, Kann Deutschland das individuelle Asylrecht aussetzen?, Interview mit Nora Markard, 07. April 2025 (Wiederveröffentlichung), hier abrufbar: https://bitl.to/4MTu.

Weitere Fragen?

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