Was sind zentrale rechtliche Fragen?
1. Verstoßen Zurückweisungen an der Grenze gegen Europarecht?
Die Dublin-III-Verordnung[1] ist das grundlegende Instrument des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), sie regelt die Zuständigkeit für Asylverfahren innerhalb der EU, ist also anwendbar, sobald eine ankommende Person irgendwie zum Ausdruck bringt, dass sie Asyl begehrt.[2] Die nationale Zuständigkeit erfolgt dann nicht automatisch, sondern sie muss einem Verfahren folgen, dem sog. Zuständigkeitsbestimmungsverfahren bzw. Dublin-Verfahren.[3] Findet eine Zurückweisung ohne Dublin-Verfahren statt, ist sie rechtswidrig. Schon 2018 hatte die Frage um Zurückweisungen die Politik bewegt. Horst Seehofer schloss Deals unter anderem mit Griechenland ab – den „Seehofer-Deal“. Dieser sah Zurückweisungen nach Griechenland innerhalb von 48 Stunden vor. Das Verwaltungsgericht München hat dies für rechtswidrig befunden – weil kein Dublin-Verfahren durchgeführt wurde.[4]
Im neuen GEAS wird die Dublin-III-Verordnung durch die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung[5] ersetzt. Auch diese setzt weiterhin zwingend ein formelles Verfahren voraus[6], insofern wird also das neue GEAS nichts ändern.
Die Rechtswidrigkeit der Zurückweisungen von Asylsuchenden ergibt sich aber auch aus der EU Grundrechtecharta (GRC), die immer dann anwendbar ist, wenn EU-Recht umgesetzt wird[7], also sehr wohl im Asylverfahren, denn hier gilt das GEAS. Denn die GRC sieht ein Verbot der Kollektiv- und Individualausweisung vor – niemand darf abgeschoben werden, ohne dass individuell geprüft wird, was einem Menschen droht.[8] Zudem darf auch das Asylrecht nicht abgeschafft werden, es ist in der EU garantiert.[9]
Außerdem: die GRC hat den gleichen Regelungsgehalt wie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) – ein Instrument des Europarats, nicht der EU.[10] Verstößt etwas gegen die EMRK, verstößt es automatisch auch gegen die GRC. Und Zurückweisungen sind auch menschenrechtswidrig, dazu gleich mehr.
Schließlich ist die Union auch primärrechtlich – also aus den europäischen Verträgen heraus – verpflichtet, die Genfer Flüchtlingskonvention einzuhalten.[11] Diese verbietet ebenfalls die Zurückweisung ohne Verfahren (non-refoulement-Prinzip) für Schutzsuchende.[12]
2. Verstoßen Zurückweisungen an der Grenze gegen die Europäische Menschenrechtskonvention?
Zurückweisungen an der Grenze verletzen zudem die EMRK. Die sich daraus ergebenden Pflichten verbieten es Staaten nicht nur, jemanden selbst zu verletzen, also etwa mit einem Stock zu schlagen. Sie enthalten auch positive Schutzpflichten. Staaten müssen prüfen, ob ihr Verhalten dazu führt, dass die Menschenrechte von einer Person verletzt werden. Sie müssen also zum Beispiel prüfen, ob in einem anderen Staat eine Todesstrafe oder eine erniedrigende Behandlung droht. Zum ersten Mal entschieden hat das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) für einen deutschen Staatsangehörigen, der aus Großbritannien in die USA abgeschoben werden sollte, wo ihm die Todesstrafe drohte.[13] Die Geschichte von Jens Soering ist mittlerweile von Netflix verfilmt.[14] Weil Menschenrechte, insbesondere das zentrale Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung aus Artikel 3 EMRK, für alle und absolut gelten, gilt das gleiche auch für Schutzsuchende. Verletzt ein Staat Artikel 3 EMRK, verstößt er nach Ansicht des EGMR gegen einen der „fundamentalsten Werte demokratischer Gesellschaften“.[15] Von der Garantie darf nicht einmal im Krieg abgewichen werden.[16] Im Oktober 2024 hat der Gerichtshof entschieden, dass die Zurückweisung eines Syrers durch die Bundespolizei nach Griechenland ohne Verfahren menschenrechtswidrig war, denn es war unklar, was ihm in Griechenland droht – weil keine Prüfung durchgeführt wurde.[17]
Und nun nochmals zur Verdeutlichung des oben Gesagten: weil die Zurückweisung die EMRK verletzt hat, hat sie auch die Grundrechtecharta der EU verletzt. Diese verbietet die unmenschliche und erniedrigende Behandlung in Artikel 4.
3. Verletzen Zurückweisungen auch das Grundgesetz?
In die Debatte wird häufig eingebracht, dass Zurückweisungen auch das deutsche Grundgesetz verletzen – oder eben nicht. Kurz gesagt: in der Praxis spielt das Grundgesetz für Asylsuchende kaum eine Rolle, denn es ist von EU-Recht überlagert. Außerdem gilt: wer EU-Recht verletzt, verletzt auch das Grundgesetz, denn es räumt dem EU-Recht Anwendungsvorrang ein. Die Frage ausführlich zu beantworten wird einer anderen Abhandlung vorbehalten bleiben – melden Sie sich also gerne zu unserem Briefing an.
4. Warum ist ein Asylantrag maßgeblich ? Wann ist ein Asylantrag gestellt?
In der Debatte, auch im „Kanzler-Duell“ wird stets unterschieden: Zurückweisungen „nur“ für Personen, die keinen Asylantrag stellen, oder für alle? Die Unterscheidung ist durchaus wichtig, denn Zurückweisungen von Menschen, die kein Asyl beantragt haben, finden bereits massenhaft statt.[18] Europarechtliche Asyl-Regelungen - und somit auch die Dublin-III-Verordnung - sind erst anwendbar, wenn ein „Antrag auf internationalen Schutz“ gestellt wird. In der Praxis wird zumeist so getan,, als sei dies nicht der Fall gewesen.. Dabei ist ein Antrag europarechtlich gesprochen: „das Ersuchen […] um Schutz durch einen Mitgliedstaat, bei dem davon ausgegangen werden kann, dass er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt“[19] – ein denkbar weiter Begriff. Für Personen, die aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak kommen anzunehmen, sie wollten kein Asyl beantragen, ist absurd – doch der Großteil der Zurückgewiesenen kommt genau aus jenen Staaten.[20] Und ohnehin kommt es auf den förmlichen Antrag nicht an: auch menschenrechtliche Verpflichtungen bedürfen keiner speziellen Form.
5. Sind Zurückweisungen schon rechtswidrig, weil Grenzkontrollen rechtswidrig sind?
Die Zurückweisung ist die deutsche Form der Einreiseverweigerung und diese muss vor der Einreise stattfinden. Sobald die Einreise stattgefunden hat, ist es nicht mehr möglich, sie zu verweigern. Es kann und muss darüber gestritten werden, ob eine Einreiseverweigerung im Binnenraum überhaupt möglich ist.[21] Klar ist aber: ohne Grenzkontrollen geht dies auf keinen Fall – sie sind Voraussetzung für Zurückweisung. Und hier liegt das Problem. Denn auch Grenzkontrollen sind regelmäßig rechtswidrig, dauerhafte Grenzkontrollen sind dies immer – egal, ob (vermeintlicher) Notstand oder nicht. Auch dazu werden wir ein gesondertes Briefing versenden.
Kurz und knapp:
- Zurückweisungen von Asylsuchenden an deutschen Grenzen verletzen EU-Recht und verletzen Menschenrechte. Das Verwaltungsgericht München hat dies bereits unmissverständlich entschieden. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Deutschland für illegale Zurückweisungen verurteilt.
- Zurückweisungen verletzen Menschenrechte. Denn: um festzustellen, ob eine Verletzung vorliegt, ist ein Verfahren und eine Prüfung notwendig. Dies ist in jedem anderen staatlichen Verfahren auch so. – Stellen wir uns vor, jemand würde das Haus einer anderen Person abreißen und erst danach würde geprüft, ob der Abbruch rechtmäßig war. Das wäre absurd. Das faire Prüfverfahren ist daher durch Grund- und Menschenrechte geschützt.
- Gesetze sind nicht einfach änderbar. Wer sagt, Recht muss allein der Politik folgen, gibt demokratische Errungenschaften auf und müsste sich aus der EU und dem Europarat verabschieden. Deutschland kann zudem nicht einseitig die Vorgaben des EU-Rechts ändern oder schlicht nicht beachten - es gilt verbindlich für alle Mitgliedstaaten.
- Wer behauptet, man würde diejenigen „zurückweisen“, die kein Asyl beantragen, verschweigt, dass Asylanträge häufig einfach ignoriert werden. Ein Asylantrag muss keiner bestimmten Form folgen, menschenrechtliche Prüfungsverpflichtungen entstehen nicht erst durch das Wort „Asyl“.
Was ist zu tun?
- Diskussionen um die Rechtswidrigkeit von Zurückweisung sind Scheindiskussionen. Jede Person, die sich mit der Materie auseinandergesetzt hat, weiß, dass diese rechtswidrig sind. Möchte jemand eine Detaildiskussion führen, dann nehmen Sie unser Briefing zur Hand.
- Entlarven Sie vorgeschobene ‚Argumente‘. Fragen Sie Ihr Gegenüber, wie sich Zurückweisungen an der Grenze konkret vorgestellt werden: Was geht damit einher? Welche Personen sind betroffen? Wie ist das „Verfahren“? Klären Sie die Person auf, dass diese immer mit einer Verletzung von Menschenrechten einhergehen und Menschen ihr Recht auf ein Verfahren versagt wird.
- Machen Sie auf die rechtsstaatliche Dimension aufmerksam. Fragen Sie Ihr Gegenüber, was es für sie:ihn bedeutete, wenn Zurückweisungen rechtswidrig wären. Wäre das okay? Dann hat die Person ein Problem mit dem Rechtsstaat.
Weiterführende Ressourcen
- Anne Pertsch und Robert Nestler, Grenzenloses Europa?, Grundrechtereport 2024.
- Constantin Hruschka, Dublin ist kein 5-Minuten-Verfahren, Verfassungsblog vom 23. Juni 2018, hier abrufbar: https://bitl.to/3zQZ.
- Catharina Ziebritzki und Robert Nestler, Unionsrecht statt „Deals“ in der Europäischen Asylpolitik, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 2020, Seite 129 fortfolgende, hier abrufbar: https://bitl.to/3zRO (€).
Weitere Fragen?
Unsere Briefings sind ein partizipatives Format - Sie fragen, wir antworten! Bitte melden Sie sich deshalb jederzeit mit Fragen und Anregungen unter briefings@equal-rights.org.
[1] Verordnung (EU) Nr. 604/2013, hier abrufbar: https://bitl.to/3zQR.
[2] Vergleiche Artikel 3 Absatz 1 Dublin-III-Verordnung.
[3] Mehr zur Pflicht der Durchführung eines Dublin-Verfahrens: Hruschka, Verfassungsblog vom 23.06.2018, hier abrufbar: https://bitl.to/3zQZ.
[4] Verwaltungsgericht München, Beschluss vom 04.05.2021, Aktenzeichen M 22 E 21.30294.
[5] Verordnung (EU) 2024/1351, hier abrufbar: https://bitl.to/3zQd.
[6] Vergleiche Artikel 16 Absatz 1 Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung.
[7] Artikel 51 GRC.
[8] Artikel 19 GRC.
[9] Artikel 18 GRC.
[10] Artikel 52 Absatz 3 GRC.
[11] Artikel 78 Absatz 1 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
[12] Artikel 33 Absatz 1 Genfer Flüchtlingskonvention.
[13] Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Urteil vom 07. Juli 1989, Aktenzeichen 14038/88 – Soering gegen Vereinigtes Königreich.
[14] Till Murder Do Us Part: Soering vs. Haysom.
[15] Nachzulesen zum Beispiel im Guide zu Artikel 3 EMRK, der vom EGMR erstellt wird, auf Seite 3, hier abrufbar: https://bitl.to/3zng.
[16] Artikel 3 EMRK ist “notstandsfest”, das ergibt sich aus Artikel 15 EMRK.
[17] EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2024, Aktenzeichen 13337/19 – H.T. gegen Deutschland und Griechenland.
[18] Pertsch/Nestler, Grenzenloses Europa, in Grundrechtereport 2024.
[19] Artikel 2 Buchstable b Richtlinie 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie).
[20] Pertsch/Nestler, Grenzenloses Europa, in Grundrechtereport 2024.
[21] Nestler/Vogt, § 13 Aufenthaltgesetz, in Huber/Mantel, Kommentar zum Asylgesetz und Aufenthaltsgesetz, 2024.