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Kennt das Grundgesetz überhaupt ein individuelles Recht auf Asyl?

Zusammenfassung

Kürzlich hat der Historiker Winkler behauptet, die „Eltern“ des Grundgesetzes wollten überhaupt kein individuelles Asylrecht schaffen. Dies ist kein Einzelfall, häufig wird sich auf das Grundgesetz berufen und behauptet, das Recht auf Asyl wäre gar nicht anwendbar und eigentlich dürfte niemand in Deutschland politisches Asyl erhalten – ob von Friedrich Merz, Andreas Dobrindt oder Christian Lindner. Mit unserem Briefing möchten wir Hintergründe und Argumente für die Debatte liefern. Mit unseren Empfehlungen zur Kommunikation fassen wir unten nochmal kurz und knapp zusammen, worum es geht.

Was sind zentrale rechtliche Fragen?

1. Artikel 16a des Grundgesetzes spielt in der Praxis keine Rolle

Nur zirka 0,7 Prozent[1] der Schutzsuchenden erhalten politisches Asyl nach Artikel 16a des Grundgesetzes. Dies liegt daran, dass das grundgesetzliche Recht auf Asyl schon 1993 im Rahmen des „Asylkompromiss“ fast vollständig ausgehöhlt worden und von Artikel 16 in Artikel 16a gewandert ist. So sieht nun Artikel 16a Absatz 2 vor, dass nur Personen Asyl beantragen können, die nicht aus einem sicheren Drittstaat – und das sind ausnahmslos alle Statten, die Deutschland umgeben – eingereist sind. Darauf wird sich in Talkshows berufen, zuletzt auch im Duell zwischen Friedrich Merz und Olaf Scholz. Gibt man nicht bei Absatz 2 auf, sondern liest bis Absatz 5, dann wird aber schnell klar, dass die Absätze 1 bis 4 von Artikel 16a „völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen[stehen]“. Das heißt: eine europäische Regelung des Asylbereichs ist möglich und mit Blick auf das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) auch vollständig geschehen.

Dort geregelt ist der „internationale Schutz“[2]; dieser enthält den Flüchtlingsschutz und den subsidiären Schutz.  

2. Wer Europarecht verletzt, verstößt gegen das Grundgesetz

  Und dennoch ist das Argument, Zurückweisungen verletzen das Grundgesetz, richtig. Denn, wer gegen EU-Recht verstößt, verletzt das Grundgesetz, denn dieses räumt Unionsrecht in Artikel 23 Abs. 1 S. 2 Anwendungsvorrang ein. Laut der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht[3] enthält das Grundgesetz einen Rechtsanwendungsbefehl, aus dem sich kraft nationalem Verfassungsrechts ein Anwendungsvorrang des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts vor dem bundesdeutschen Recht ergebe. Es steht also im Grundgesetz selbst, dass EU-Recht unmittelbar Anwendung findet und Vorrang vor dem deutschen Recht hat.  

3. Auch Artikel 16a des Grundgesetzes enthält ein individuelles Recht auf Asyl

Unabhängig vom oben Gesagtem, liegt der Historiker Winkler[4] zudem falsch, jedenfalls sind seine Ausführungen unerheblich. Denn er behauptet – kürzlich auch nochmals umfangreich im Deutschlandfunk[5] – die „Eltern“ des Grundgesetzes hätten kein individuelles Asylrecht gewollt, sondern „nur“ den Kern des (damaligen) Flüchtlingsrecht, nämlich das Gebot der Nichtzurückweisung (non-refoulement).

Einerseits dürften Winklers Ausführungen schon historisch nicht haltbar sein[6] – darum soll es aber nicht einmal gehen. Denn erstens verpflichtet auch das Gebot der Nichtzurückweisung zu einer Einzelfallprüfung, ob bei einer Abschiebung eine Gefahr für Leben oder ihre Freiheit aus bestimmten Gründen droht.[7] Für die Debatte, ob Zurückweisungen rechtmäßig sind, bedeutet dies insofern, dass Winklers Beitrag das Argument nicht widerlegte, sondern bestätigte – wenngleich Artikel 16a des Grundgesetzes wie oben gezeigt gerade nicht zur Anwendung kommt.

Zweitens kennt die juristische Methodenlehre nicht allein die historische Auslegung, die Verfassung ist vielmehr ein Instrument, das sich weiterentwickelt. Neben der historischen Auslegung spielen auch diejenigen nach Wortlaut, Systematik und Sinn und Zweck eine gleichgeordnete Rolle.[8] Dahingehend haben beinahe alle Expert:innen[9], das maßgebliche Bundesverfassungsgericht erstmalig bereits 1959 und seitdem stets[10] und im Übrigen auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine dezidiert andere Meinung als Winkler: ein individuelles Recht auf Asyl ergibt sich auch aus Artikel 16a des Grundgesetzes. Auch der Wortlaut ist dahingehend unmissverständlich.[11] Der Debattenbeitrag ist daher einerseits mit Blick auf maßgebliches Unionsrecht unerheblich, andererseits einseitig historisch und so schließlich irreführend: er spielt keine Rolle.

Kurz und knapp:                         

  1. Im Asylkontext sind Diskussionen um das Grundgesetz fast immer eine Nebelkerze. Wer auf Artikel 16 a Absatz 2 verweist und sagt, Deutschland sei ja von sicheren Drittstaaten umgeben, die:der muss auf Absatz 5 hingewiesen werden: EU Recht ist wichtiger und Artikel 16a ist deshalb statistisch irrelevant.
  2. Wer das Unionsrecht verletzt, verletzt das Grundgesetz, denn dieses räumt Unionsrecht einen Vorrang ein.
  3. Artikel 16a enthält ein individuelles Recht auf Asyl.  Trotz gegenteiliger Behauptungen wird in der juristischen Praxis und durch das Bundesverfassungsgericht ein individuelles Asylrecht aus Artikel 16a des Grundgesetzes abgeleitet.

Was ist zu tun?

  • Seien Sie wachsam, wenn es um Fragen geht, die sich um Artikel 16a des Grundgesetzes drehen. Artikel 16a Grundgesetz spielt keine Rolle.
  • Wiederlegen Sie dieses Scheinargument, indem Sie gemeinsam das Grundgesetz lesen.
  • Hinterfragen Sie vermeitliche Expert:innen, die sich in hitzigen Debatten positionieren – mögen sie noch so renommiert und respektabel sein, ist das Asylrecht in den seltensten Fällen ihr Fachgebiet.

Weiterführende Ressourcen

  • Lesen Sie am besten Artikel 16a des Grundgesetzes einmal von vorne bis hinten.
  • Constantin Hruschka, Die Mär vom Deutschen Asylsonderweg, Der Spiegel vom 15 Februar 2025, hier abrufbar: https://bitl.to/40vs (€).
  • Zum Asylrecht lohnt sich auch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Urteil vom 14. Mai 1996, 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 (Flughafenverfahren), hier abrufbar: https://bitl.to/40w0.

[1]  Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Schlüsselzahlen Asyl 2024, hier abrufbar: https://bitl.to/3wV7.    

[2]  Der Begriff ist zum Beispiel in Artikel 2 Buchstabe i der sogenannten Asylverfahrensrichtlinie definiert (Richtlinie 2013/32/EU) und die Schutzstatus ergeben sich auch aus §§ 3 und 4 des deutschen Asylgesetzes.

[3] Beschluss vom 22. Oktober1986, 2 BvR 197/83 = BVerfGE 73, 339 (Solange-II-Beschluss) – noch zu Artikel 24 GG, weil Artikel 23 erst später, auf Grundlage dieser Rechtsprechung eingeführt worden ist.

[4] Heinrich August Winkler, Die deutsche Asyllegende, Der Spiegel vom 08. Februar 2025, hier abrufbar:  https://bitl.to/40vi.

[5] Dirk-Oliver Heckmann, Individuelles Asylrecht nur eine Legende? Interview mit Historiker H. A. Winkler, Deutschlandfunk vom 12. Februar 2025, hier abrufbar: https://bitl.to/40w8.

[6] Constantin Hruschka, Die Mär vom Deutschen Asylsonderweg, Der Spiegel vom 15 Februar 2025, hier abrufbar: https://bitl.to/40vs.

[7]Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention, vergleiche Nula Frei/Kevin Fredy Hinterberger/Constantin Hruschka, Kommentar zur Genfer Flüchtlingskonvention, Artikel 33, 2022, Randnummern 1-4, hier abrufbar: https://bitl.to/40wK. Das Gebot der Nichtzurückweisung ergibt sich auch aus Menschenrechten, das haben wir im Briefing zu Zurückweisungen dargestellt: Warum Zurückweisungen rechtswidrig sind, hier abrufbar: https://bitl.to/42ii.

[8] Vgl. nur Möllers, Juristische Methodenlehre, 2024, S. 137 fortfolgende.

[9] Vgl. nur Will, in Sachs, Kommentar zum Grundgesetz, 2024, Artikel 16a, Randnummer 13.

[10]Urteil vom 14. Mai 1996, 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 (Flughafenverfahren), Randnummer 157, in dem auch das Bundesinnenministerium von einem Individualgrundrecht ausgeht (Randnummer 115).

[11] Siehe auch Constantin Hruschka, Die Mär vom Deutschen Asylsonderweg, Der Spiegel vom 15 Februar 2025, hier abrufbar: https://bitl.to/40vs.

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